Band 1: Der düstere Wanderer

Leseprobe: Liebe und Begehren

Mauro und Morriell warteten noch eine Weile, ehe sie sich aus ihrer Starre lösten. Es wurde empfindlich kalt. Morriell war verzweifelt: „Ohne Pferde kommen wir nicht weiter. Wir werden jämmerlich erfrieren.“

„Die Pferde kommen zurück. Auf Äsekiel ist Verlass. Kommt.“ Mauro ergriff Morriells Hand und zog sie mit sich fort.

Sie fanden eine Felsnische oberhalb des Bachbettes, wo sie vor der Kälte besser geschützt waren. Mauro trug Reisig zusammen und sie ließen sich nieder. Morriell wollte etwas sagen, doch Mauro bedeutete ihr, still zu sein. Er konzentrierte sich und nahm mit Äsekiel Verbindung auf. Die Stute war gerade mit einem feurigen jungen Hengst beschäftigt. Für Mauros Einflüsterungen war sie nicht ansprechbar. „Im Moment verfolgt sie andere Interessen. Die Chancen stehen gut, dass wir morgen zwei Pferde haben. Machen wir es uns gemütlich. Wir müssen bloß die Nacht überstehen.“

Von >gemütlich< konnte keine Rede sein. Morriell fror erbärmlich.

„Ein Feuer können wir uns nicht erlauben. Kommt zu mir, ich werde Euch mit meinem Körper wärmen“, bot Mauro an. Dann ermahnte er sie: „Wir dürfen nicht einschlafen. Am besten wir halten uns gegenseitig wach, sonst sind wir morgen früh erfroren!“

Morriell kroch zu ihm und suchte unter seinem Mantel Schutz. In Mauros Armen fühlte sie sich besser. Sie hatte keine Angst vor ihm. Nach einiger Zeit sagte sie: „Ihr begehrt mich nicht. Gefalle ich Euch nicht?“

Mauro überlegte, was er ihr antworten sollte. In dieser Situation hatten sie wahrlich andere Probleme. Doch er hatte ihr aufgetragen, ihn wach zu halten. Wenn es das war, was sie bewegte, gut. „Ihr seid ein hübsches Mädchen, doch auch Ihr begehrt mich nicht. Sollte ich deswegen gekränkt sein? Ihr hättet mich nicht als Reisebegleiter ausgewählt, wenn Ihr Euch bei mir nicht sicher gefühlt hättet. Braucht Euer Ego wirklich die Bestätigung, von jedem begehrt zu werden?“ „Wie ist sie, die Frau, die Ihr begehrt?“

Mauro hatte keine Lust, darauf einzugehen. „Worüber sprechen wir hier eigentlich? Über Begehren oder über Liebe?“

Morriell dachte eine Weile nach, ehe sie weiter sprach: „Was muss ich tun, um geliebt zu werden?“

Mauro war nicht oberflächlich genug, um einfach zu antworten >liebenswürdig sein<. Auch der gute Rat, >sich selbst zu lieben, ehe man von anderen Liebe erwarten kann< griff zu kurz. Wenn nur die Menschen in den Genuss der Liebe kämen, die völlig mit sich im reinen sind, wäre Liebe so selten wie ein Schneesturm im Sommer. So sagte er ehrlich: „Ich weiß es nicht. Wir begegnen einem Menschen, an den uns in diesem Leben etwas bindet. Liebe, Hass, Begehren – was immer. Dahinter steht ein gemeinsames Ziel, eine Lernaufgabe, die es zu meistern gilt. Mit der Gabe der Liebe wird es einfacher. Doch sie ist ein Geschenk, kein Anspruch, den wir geltend machen können.“ „Wohin ich komme stoße ich auf Ablehnung. Die Menschen erwarten von mir, dass ich stark bin, tapfer. Wenn ich es bin, nennen sie mich hart und unweiblich. Sie sagen >verstell Dich nicht, sei Du selbst.< Doch wenn ich es tue, weisen sie mich zurück: >sei liebenswürdig wie die andern, die netten Mädchen. So mögen wir Dich nicht!<

Mauro verstand. „Ihr seid Morriell, die Dunkle. Ihr habt keinen leichten Weg gewählt, denn Ihr seid die, die den Anderen Reibung für ihr Wachstum zur Verfügung stellt. Die dafür sorgt, dass es nicht allzu glatt und komfortabel läuft. Dafür lieben sie Euch nicht. Ihr habt keine Chance, so liebenswert zu sein wie >die anderen<, ohne die Mission zu verraten, die Ihr Euch für dieses Leben gewählt habt. Wann immer etwas in eine falsche Richtung läuft, fühlt Ihr den inneren Drang, einzuschreiten. Wenn Ihr Euch hundertmal vornehmt, es diesmal nicht zu tun: schon reißt es Euch mit sich fort.“ Er wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte.

„Ihr meint, ich verdanke es meinem Lebensplan, dass ich nicht so bin wie die anderen? Soll ich es einfach hinnehmen, dass ich überall anecke? Soll ich stolz darauf sein?" sagte sie trotzig.

„Es ist eine Gradwanderung zwischen dem >Ich selbst sein< und dem, was sozial akzeptiert wird. Wirklich zu sich selbst kann man erst finden, wenn man von der Achtung seiner Mitmenschen unabhängig geworden ist. Solange Ihr mental, wirtschaftlich oder auf andere Weise von anderen abhängig seid, solange Ihr innerhalb der Gesellschaft klarkommen wollt, müsst Ihr zwangsläufig Kompromisse machen. Das nennt man gute Manieren. Ihr werdet an die Grenzen Eurer Anpassungsfähigkeit stoßen und in der Auseinandersetzung mit diesen Grenzen wachsen. Außerdem: mit dem Alter wird manches leichter. Womit ich nicht behaupten möchte, dass ich abgeklärt wäre!“

„Auch Ihr seid keiner, der offene Arme vorfindet, wo immer er hinkommt. Ihr seid ein Kind der dunklen Seite: zu stark, zu selbstsicher, zu zornig. Ihr macht den Leuten Angst. Doch auch die Kinder des Schattens werden mit der ewigen Sehnsucht nach Liebe geboren!“

„Manche von uns gehören einer Seelenfamilie an, deren Mitglieder sich über viele Leben hinweg mit Intrige, Aufruhr, der Grenze von Lüge und Wahrheit beschäftigen. Sie erleiden eine Menge Zurückweisung und streben doch alle nur nach Liebe. Denn die vollkommene Liebe ist das Endziel, das Versprechen, das uns die Unsterblichen gegeben haben. Wären wir schon am Ziel, säßen wir heute nicht hier.“

„Heißt das, ich muss mich daran gewöhnen, ohne Liebe zu leben?“

„Ich glaube nicht, dass man sich daran gewöhnt. Manches Mal trifft man seinesgleichen, und dann kann etwas wachsen. Die Auswahl ist dünn, doch selbst die mächtigste der alten Zauberinnen, die Hexenkönigin von Yian Mah, hatte über Jahrzehnte eine innige Liebesbeziehung. Sie hat sich einen ausgesucht, der stark genug war, ihre Stärke zu ertragen.“ Mauro gedachte fast zärtlich der alte Dame und ihrer Trauer. Ja, diese Frau hatte gewusst, was Liebe bedeutet. Hatte Shio Ban ihn geliebt? Hätte sie... nein, das führte nirgendwo hin. Er zwang seine Gedanken zu Morriell zurück: „Lebt Ihr wirklich ohne Liebe? Eure Mutter, Euer Vater...“

„Ich habe keinen Vater. Ich bin ein Kind der Riten,“ sagte sie bitter. „Ich bin im Tempel aufgewachsen. Da war kein Schmied, der zwischen zwei Hufeisen seiner Tochter einen liebevollen Blick zugeworfen, keine sechs Geschwister, die mich auf den ersten Schritten in die Welt begleitet hätten.“ In diesem Moment beneidete sie ihn um seine >ganz normale Herkunft<.

„Ihr bemitleidet Euch selbst. Im Tempel ist man nie alleine. Außerdem hat jeder Menschen, die ihm nahe stehen.“

„Ja, Ihr habt Menschen, die Euch nahe stehen!“ rief sie zornig aus. „Könnt Ihr eure Liebe nur beweisen, indem Ihr Euer Leben aufs Spiel setzt? Schicken sie Euch auch in den Kampf? Für wen wäret Ihr bereit, in den Tod zu gehen?“ Sie hielt erschrocken inne und schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken.

Er zog sie ein wenig näher an sich und ließ sie an seiner Schulter zu sich kommen. Wieso fragte sie ihn das jetzt? Wieso dachte er überhaupt darüber nach, Yian Mah zu retten? Um Yerion seine Liebe zu beweisen? Sicher nicht. Und doch ... um wieder irgendwo hin zu gehören? Sich das Recht zu erwerben, einen Ort auf der Welt sein „zu Hause“ zu nennen? Er hatte immer gedacht, Brig wäre seine Heimat. Jetzt wusste er es besser. Hierher führte kein Weg zurück. Suchte er eine neue Heimat? War er dafür bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Was ist der Wert des Lebens ohne Menschen, denen man wichtig ist? Hätte er dem Fluch der Priesterin standgehalten, wenn die Menschen von Yian Mah ihm nie begegnet wären? War das am Ende doch eine Form von Liebe?

Zum Glück erwartete sie keine Antwort von ihm.

Er fühlte das Zucken ihrer Schultern, hob ihr Gesicht zu sich hoch und sah Tränen über ihre Wangen laufen. „Weint nicht, junge Dame, alles wird gut. Morgen sieht der Tag freundlicher aus. Seht her, sogar die Sterne fallen vom Himmel, wenn Ihr so traurig dreinschaut.“ Das hatte er zu Myrna gesagt, wenn sie betrübt war. Dann hatte er Sterne auf sie herabregnen lassen, bis sie wieder lächelte. Nun versuchte er sein Glück bei Morriell. Er ließ einen Sternenregen auf sie niedergehen. „Lasst mich sehen, wie die Sterne sich in Euren Augen spiegeln!“ Er ergriff ihr Kinn und wandte ihr Gesicht in seine Richtung: „Ja, so ist es besser. Ihr lächelt schon fast!“

„Ist das Euer Standardtrick, wenn Ihr eine Frau herumbekommen wollt?“ fragte sie unbeeindruckt.

„Ist das wirklich alles, was Euch in den Sinn kommt? Wie schade.“


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